Schwarzer Januar von Baku — 20.01.1990

By Matthias Wolf Мар 7, 2019
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Matthias Wolf

Dolmetscher

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ZWISCHEN NATIONALER BEFREIUNG UND VOLKSTRAUER- DER „SCHWARZE JANUAR“ ALS IMMATERIELLER GEDÄCHTNISORT IN DER ASERBAIDSCHANISCHEN GESCHICHTE UND SEINE REZEPTION IN DEUTSCHLAND

Das Phänomen nationaler Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen spielte zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedenen Gegenden der Welt eine wichtige Rolle für die Gestaltung internationaler Beziehungen. Zum einen sagen solche Bewegungen und ihr Erfolg etwas über die Souveränität, aber auch über die globalpolitische Wichtigkeit von Staaten sowie deren identitäres Selbstverständnis aus. Dies galt nicht nur im 18. und 19. Jahrhundert, als es durch bürgerliche Revolutionen gelang, Monarchien in Verfassungsstaaten oder später in parlamentarische Demokratien zu verwandeln, sondern auch noch dann, als Parlamentarismus und Staatsbürgertum schon längst weltweit verbreitet waren. So lassen sich beispielsweise auch noch revolutionäre Bewegungen ähnlicher Natur bis in die Neunzigerjahre des 20.Jahrhunderts feststellen, die sowohl medial, als auch gesellschaftspolitisch sehr intensiv wahrgenommen und, so darf man feststellen, für die weitere demokratische Entwicklung vieler Länder zum Vorbild erhoben wurden. Eine dieser Bewegungen ging unter dem Namen „schwarzer Januar“ in die Weltchronik ein. Jedoch blieb, gerade in Europa, eine erschöpfende Analyse und historische Bewertung dieses Ereignisses, das ein Jahr vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion stattfand, aus. Die wenigen Quellen, die es in deutscher Sprache dazu gibt, taugen allenfalls dazu, die Ereignisse von damals vom Ablauf und ihren Ursachen her zu rekonstruieren. Über den identitätsstiftenden Charakter dieses Ereignisses bzw. über die Bedeutung Aserbaidschans für Europa nach seiner Unabhängigkeit im Jahre 1991 ist in diesem Zusammenhang nur wenig bekannt. Der folgende Essay soll speziell der Frage nachgehen, warum gerade in Deutschland nur wenig über dieses Ereignis bekannt ist und weshalb, trotz gewisser historischer Parallelen im Unabhängigkeitsdenken beider Länder von Fremdbesatzung, keine genauere Auseinandersetzung mit diesem Thema erfolgt. Dabei werden einige mögliche Begründungen als Hypothesen in den Raum gestellt und anschließend auf ihre Plausibilität geprüft werden. Hierbei werden auch aktuelle Tendenzen des politischen Geschehens in Deutschland in die Betrachtung mit einbezogen. Am Ende des Essays steht eine kurze Auswertung der aufgestellten Hypothesen hinsichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit und politischen Relevanz.

Eine erste Begründung dafür, weshalb nur wenig über den Schwarzen Januar in Deutschland bekannt geworden ist, kann in der Tatsache liegen, dass sich nach 1990 mit der eigenen Geschichte und, genauer, mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs befasst wurde. Hierbei wurde vor allem die Rolle Russlands, aber auch die Einflussnahme der Westmächte, also Frankreichs, Englands und der USA untersucht. Dies war für Deutschland ein wichtiger Schritt zur nationalen Selbstfindung. Hatte man nämlich bis 1989 noch in zwei deutschen Teilstaaten (BRD und DDR) zusammen und doch voneinander getrennt gelebt, so galt es nun, nach der „Wende“ zu einer gemeinsamen nationalen Identität zurück zu finden. Die ehemaligen „Bruderländer“ der DDR, also auch die Völker der Sowjetunion sowie deren nationale Einzelschicksale, interessierten dabei freilich weniger. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man sich eher nach Westen orientieren wollte, zumal besonders in den 1980er Jahren, bereits  die Idee eines zusammenwachsenden Europas aufkam. Russland, geschweige denn andere Staaten der ehemaligen UdSSR gehörten nicht zu dieser Vision. Also blieb eine umfassende Berichterstattung zu diesem Thema entsprechend aus.

Ein weiterer Grund, der bis heute die Berichterstattung zu Aserbaidschan allgemein beeinträchtigt, ist die Schwierigkeit, dass viele Europäer Aserbaidschan als Land weder kennen noch einordnen können. Wenige wissen beispielsweise über die banalsten Fakten wirklich Bescheid, sei es die Tatsache, dass Aserbaidschan im Kaukasus liegt, einmal eine Sowjetrepublik war oder gar, dass bereits 1918 Frauen in der ersten (noch islamischen) Republik Wahlrecht genossen. Man kann daher auch ein geschichtliches Detailwissen von vielen deutschen Bürgern nicht erwarten, egal, ob es dabei um den „Schwarzen Januar“ oder die deutschen „Kolonien“ Helenendorf, Annenfeld und Georgsfeld geht. Dass nämlich die deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen wesentlich älter sind, als man gemeinhin annehmen mag, ist vielen Deutschen ebenfalls nicht bewusst. Während deutsch-russische Beziehungen heute wieder Schritt für Schritt aufgearbeitet werden, findet dies eben am Beispiel Aserbaidschans kaum statt, selbst wenn man die aktuell guten diplomatischen Beziehungen mit berücksichtigt.

Hinzu kommt neben der politischen allerdings noch eine kulturelle Dimension. Denn unterstellt man einmal, dass mancher deutsche Staatsbürger Aserbaidschan vom Namen her kennt und weiß, wo dieses Land sich befindet oder vielleicht sogar einmal vom Bergkarabach-Konflikt gehört hat, so muss man feststellen, dass die Haltung gegenüber den Turkstaaten generell von Misstrauen geprägt sein kann. Der Grund dafür liegt nicht nur in der offensichtlichen räumlichen Ferne dieses Landes zur Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in einem scheinbaren kulturellen Gegensatz. Denn Turkvölker sind oftmals muslimischen Glaubens und genau das macht es vielen Menschen in Europa gerade heute wieder schwierig, sich in die Belange ersterer einzufühlen. Mancher deutsche Bürger denkt unter Umständen, dass es unnötig sei, für die nationale Freiheit muslimisch geprägter Länder Interesse zu zeigen. Dies ist aber noch der weniger problematische Fall, weil hiermit ein Gefühl von Gleichgültigkeit einhergeht, nicht aber mit bewusstem kulturellen Rassismus oder Chauvinismus.

Anders stellt sich die Situation jedoch dar, wenn durch Personen des öffentlichen Lebens bewusst Zwietracht gesät wird. So äußerte sich beispielsweise auch die Parteivorsitzende der „Alternative für Deutschland“ (AfD) zu den Ereignissen des 20.Januar in der Art, dass sie Partei für Russland ergriff, indem sie den Aserbaidschanern unterstellte, sie hätten eine türkisch-islamische autonome Republik gründen wollen und deshalb speziell christliche Minderheiten vertrieben. Dieser Aussage muss vehement widersprochen werden. Denn es ging nicht um ethnische Säuberungen zu jenem Zeitpunkt, sondern um nationale Souveränität. Ad absurdum wird diese Argumentation noch dadurch geführt, dass zum einen diese letztgenannte Partei für die Souveränität der Nationalstaaten Europas wirbt, zum anderen dabei auch die Täterrolle Armeniens (im politischen Sinne) in anderen Konflikten auszublenden scheint. Die Fragen, die man stellen könnte, wären demnach: „Sind Armenier automatisch immer Opfer, weil sie Christen sind?“ „Sind Aserbaidschaner durch ihre schiitisch-islamische Leitkultur automatisch immer Täter?“ Und nicht zuletzt: „Ist einer Partei, die sich weltgewandt und patriotisch geben will, unbekannt, dass Aserbaidschan schon seit Jahrhunderten ein multi-ethnisches und multi-religiöses Land war?“ Es lohnt sich die Mühe, über Konflikte, deren Ursachen und Folgen gründlich zu recherchieren, bevor pauschale Urteile gefällt werden. Doch in gerade solchen Fällen kann es zu einem Ausblenden der eigentlichen Ursachen und Wirkungen kommen, da ja ein geschichtliches Ereignis dazu genutzt wird, Partei für diejenigen zu ergreifen, die den Betreffenden scheinbar kulturell näher stehen. Mag so ein Verhalten menschlich nachvollziehbar sein, so kann es in solch einer Situation nur als politisch inkonsequent angesehen werden, wenn man einen -wie auch immer gearteten- Imperialismus gegenüber Deutschland ablehnt und gleichzeitig eine Fremdherrschaft in anderen Ländern toleriert. Es sei an dieser Stelle abschließend gesagt, dass auch Halbwahrheiten und parteiisches Denken eine umfassende Berichterstattung verhindern.

Zum Abschluss möchte ich sowohl das Ergebnis meiner Beobachtungen zu diesem Thema zusammenfassen, als auch ein persönliches Statement dazu abgeben, was aus meiner Sicht den „Schwarzen Januar“ als identitätsstiftendes Ereignis charakterisiert und auszeichnet. Die in Deutschland und Europa vertretene Geschichtsauffassung einer „freien Welt“ im eurozentristischen Sinne sowie die kulturelle Abgrenzung zu Völkern jenseits von Bosporus und Ural sind es, die eine detaillierte Auseinandersetzung verhindern. Man konzentriert sich lieber auf „sich selbst“, wobei vielfach übersehen wird, dass das Problem von Freiheit und Souveränität universal und für JEDES Land anwendbar ist. Aserbaidschan ist für viele Europäer „nicht mehr Europa“, fühlt sich aber doch selbst als ein „Brückenland“ zwischen europäischer und orientalischer Kultur. Wollen wir also die deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen stärken, so muss dieses Bewusstsein von Zugehörigkeit und Solidarität betont werden. Ich selbst kann auch als Nicht-Aserbaidschaner mein Mitgefühl nicht unausgesprochen lassen und zwar aus dem Grunde, dass für die Freiheit des eigenen Landes zu kämpfen ein ehrenvoller Akt ist und gleichzeitig jeder Tote in diesem Konflikt unnötig war. Konflikte zum Thema Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sollten, wie im Falle der Krim, durch ein Referendum oder durch parlamentarische Mittel entschieden werden, niemals aber durch Gewalt. Denn wenn letztere zum Einsatz kommt, zeigt dies genau zwei Dinge: Die Schwäche der Okkupanten und wie sehr die Okkupierten im Recht mit ihren Protesten sind.

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Potsdam, 24.01.2017      

Tragödie von Chodschali

Den 26. und 27. Februar, etwa eineinhalb Tage lang, verbrachte der iranische Außenminister Ali Akbar Velayati mit einer Friedensmission in Gandscha. Er konnte allerdings nicht nach Chankendi fliegen: trotz der am Vorabend erreichten Vereinbarung über die Üaffenruhe wurde die Flugsicherheit für ihn von der armenischen Seite nicht gewährleistet. Dieses vereinbarte Moratorium bedeutete, wie wir sehen werden, das Ende der Existenz von Chodschali.
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